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Sven Felix Kellerhoff, Wieland Giebel,
Berliner Morgenpost (Hg.):
Als die Tage
zu Nächten wurden
Berliner Schicksale im Luftkrieg
70 Leser berichten über ihr Erleben des Luftkriegs gegen die
Hauptstadt 1940 bis 1945, derzeit das einzige Buch mit derart
persönlichen Augenzeugenberichten über Berlin im
Bombenhagel.
"Zuerst war Fliegerangriff ganz schön", erinnert sich Bernd
Müller an die ersten Luftangriffe auf Berlin Anfang der vierziger
Jahre: "Wenn der Angriff nach 24 Uhr war, dauerte die Unterrichtsstunde
am nächsten Morgen nur 25 Minuten, und die ersten beiden
Schulstunden fielen aus." Doch sehr bald merkte auch der damals
Zehnjährige, daß die bösartig brummenden Flugzeuge Tod und
Verderben
säten - und sei es nur, weil sein Kater "Mister" sich schon beim ersten
warnenden Kuckucksruf aus dem Radio unter den Ofen verkroch.
Bernd Müller ist einer von mehreren hundert Lesern der Berliner
Morgenpost, die im Spätherbst 2003 ihre Erinnerungen an die
Bombardements auf Berlin niederschrieben. Am 22. November hatte die
Morgenpost dazu aufgefordert, und binnen knapp einer Woche trafen
unerwartet viele Briefe von Zeitzeugen, Tagebuchaufzeichnungen, selbst
verfasste Memoiren und Fotos in der Redaktion ein. Es waren so viele, daß
die Morgenpost sich entschloss, knapp ein Drittel dieser durchweg
ergreifenden Zeugnisse über "Berliner Schicksale im Luftkrieg" als
Buch herauszubringen.
Die Moral der deutschen Zivilbevölkerung wollten die Alliierten
treffen, ihnen das Leben in den Städten, den Organen jeder
Industriegesellschaft, unmöglich machen. So könnte man den
Krieg rasch und ohne allzu große eigene Verluste
gewinnen - das jedenfalls war die Lehre, die vor allem britische
Generäle aus den Materialschlachten des Ersten Weltkriegs und der
neuen Waffe der schweren Langstreckenbomber gezogen hatten. "Der
Bomber kommt immer durch", begründete der damalige
Premierminister Stanley Baldwin in den dreißiger Jahren dieses
Konzept. Diese Überzeugung ist auf denkbar grausame Weise
widerlegt worden. "Immer" kamen die Bomber nämlich nicht
durch - kein anderer Teil der Royal Air Force hatte so große Verluste
wie das Bomber Command. Aber dennoch reichte es, mehr als tausend
deutsche Städte und Dörfer von Flensburg bis Freiburg zu
zerstören.
Allerdings führte die Verwüstung zum entgegengesetzten
Ergebnis: Die Bevölkerung wurde durch die
gemeinsame Opfer-Erfahrung zusammengeschweißt. Die Einwohner
der großen Städte konnten spätestens ab 1943 kaum einen
Abend mehr sicher sein, nicht mitten in der Nacht aufstehen und in die
öffentlichen Bunker oder die oft provisorischen Luftschutzkeller
umziehen zu müssen. Die Atmosphäre von Angst, Verzweiflung
und Erschöpfung ist für Nachgeborene
unvorstellbar - anhand der Zeitzeugenberichte aber gewinnt man immerhin
einen Eindruck.
Gerade Berlin wurde im Winter 1943/44 und ab Herbst 1944 fast
allnächtlich
überflogen - meistens von relativ ungefährlichen
Schnellbombern, aber häufig genug eben auch von gewaltigen
Bomberströmen. Diese Erfahrung des Ausgeliefertseins hat sich in die
Berichte aller Zeitzeugen tief eingegraben, sie ist in jeder Zeile zu
spüren - und sie deckt sich mit den Erlebnissen zehntausender anderer
Menschen in ganz Deutschland. Ganze Berliner Stadtteile wie das
Hansaviertel (November 1943) oder die südliche Friedrichstadt
(Februar 1945) gingen in einem einzigen Angriff unter. Zwischen 11.367 und
18.029 Luftkriegstote allein in der Reichshauptstadt zählten die
unterschiedlichen Behörden. Vieles spricht dafür, daß diese
gemeinsame Opfer-Erfahrung dem deutschen Volk jene im späten 19.
und frühen 20. Jahrhundert so sprichwörtliche
Kriegsbegeisterung [?? Scriptorium]
ausgetrieben hat. Kein anderes Volk hat sich seit 1945 so
gestellt wie die Menschen in
Deutschland - von den "Ohne mich!"-Demonstrationen der fünfziger
Jahre über
die Anti-Vietnam- und die Friedensbewegung bis zu den Golfkriegsprotesten.
Entscheidend ist nicht, ob diese Demonstrationen gegen den Militarismus
(oder genau genommen das, was man dafür hielt und hält)
sachlich gerechtfertigt waren. Entscheidend ist, daß Millionen Deutsche ganz
verschiedener Generationen zutiefst pazifistische Überzeugungen
haben. Wer die erschütternden Zeitzeugenberichte in "Als die Tage zu
Nächten wurden" oder in anderen Büchern liest, ahnt, warum
das so ist.
(Rezension von BerlinStory.de.)
(237 S., 12.5 x 20.5 cm, kartoniert, mit 5 Fotos)
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